Private Website‑ und App‑Anbieter stehen vor einem Paradigmenwechsel: Mit der Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) rückt auch die digitale Barrierefreiheit ins Blickfeld gesetzlicher Pflichten. Wer heute seine Onlineangebote nicht zugänglich gestaltet, riskiert künftig rechtliche Auseinandersetzungen. Dieser Beitrag zeigt, was auf Unternehmen zukommt, welche Anforderungen gelten und wie man sie in Web‑ und App‑Projekten systematisch umsetzt.
Im geltenden Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) sind bisher vor allem öffentliche Dienste und bestimmte Betriebe verpflichtet, Benachteiligungen gegenüber Menschen mit Behinderungen zu vermeiden. Dies insbesondere im Arbeitsumfeld, wie auch bei Dienstleistungen. Private Anbieter digitaler Dienstleistungen waren in diesem Rahmen kaum adressiert.
Mit der vom Bundesrat verabschiedeten Botschaft zur Teilrevision des BehiG ändert sich das: Private Dienstleister, die öffentlich zugängliche Angebote bereitstellen – insbesondere im Onlinebereich – sollen künftig angemessene Vorkehrungen treffen müssen, damit digitale Angebote barrierefrei nutzbar werden.
Zudem sieht der Entwurf sieht vor, den Schutz nach dem Vorbild der Gleichstellung von Frauen und Männern von öffentlich-rechtlichen auch auf privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse auszudehnen. In materieller Hinsicht ist ein Verbot sämtlicher Benachteiligungen vorgesehen, das heisst aller Situationen, die zu einer Schlechterstellung oder einer direkten oder indirekten Diskriminierung führen. Das gilt insbesondere bei der Stellenbesetzung, den Anstellungs- und Arbeitsbedingungen, der Entlöhnung, der Aus- und Weiterbildung, der Beförderung und der Kündigung. Die
Konkret sieht der Entwurf vor, dass private Anbieter verpflichtet werden, die jeweils geeigneten und unter Abwägung der Umstände zumutbaren Massnahmen zu ergreifen, um Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Wenn einfache Massnahmen verweigert werden, kann dies als Eingriff in die Rechte von Menschen mit Behinderungen gelten – mit möglichen rechtlichen Konsequenzen.
Der Bundesrat soll zudem die Kompetenz erhalten, verbindliche Mindeststandards im Bereich digitale Barrierefreiheit festzulegen, die sich an internationalen und europäischen Vorschriften orientieren.
Wann fällt ein Anbieter unter das BehiG
Nicht jede private Website oder App wird automatisch unter die neuen Pflichten fallen. Entscheidend ist, ob der Anbieter öffentliche zugängliche kommerzielle und kulturelle Dienstleistungen anbietet – also solche, die sich über digitale Kanäle an einen unbestimmten Nutzerkreis richten. alle Anbieter öffentlich zug‰nglicher kommerzieller und kultureller Dienstleistungen, einschliesslich digitaler Dienstleistungen. Beispiele sind z.B. Kinos, Theater, Restaurants, Hotels, Sportstadien, Detailhändler, Internetprovider, Apps für Self-Service im Restaurant, mobile Apps mit Endnutzerzugang oder digitale Kommunikationsdienste, Bewerbertools, etc.
Kleinere Anbieter oder Nischendienste mit begrenztem Nutzerkreis könnten entlastet werden, soweit die Umsetzung unzumutbar wäre – doch der Entwurf sieht nicht generell eine Ausnahmeregelung für kleine Unternehmen vor. In der Praxis ergibt sich ein Graubereich: ein Online-Shop, der ein breites Publikum bedient, dürfte schnell in den Anwendungsbereich fallen – ebenso Apps mit Endnutzerfokus. Betreiber, die lediglich interne Tools oder geschlossene Kundensysteme betreiben, d.h. v.a. im B2B, dürften weniger stark betroffen sein.
Anforderungen an Websites und Apps
Barrierefreiheit dürfte künftig nicht mehr als Nice-to-have gelten, sondern als integraler Bestandteil digitaler Angebote. Dabei spielen internationale Standards wie die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) eine zentrale Rolle – typischerweise auf dem Niveau „AA“. In der Schweiz wird der eCH‑0059-Standard herangezogen, der die WCAG-Kriterien konkretisiert.
Was bedeutet das konkret für Web- und App-Betreiber? Zunächst müssen Inhalte so gestaltet werden, dass sie wahrnehmbar sind – etwa durch Alternativtexte für Bilder, Untertitel für Videos oder ausreichende Farbkontraste. Funktionen müssen bedienbar sein – zum Beispiel über Tastatur oder assistive Technologie. Verständlichkeit ist zentral: Menüs, Texte und Navigation sollen klar strukturiert sein und für Nutzer:innen nachvollziehbar. Schliesslich muss Robustheit gewährleistet sein: Inhalte sollten mit verschiedenen Geräten und Technologien, inklusive Screenreadern, kompatibel sein.
Für Apps kommen zusätzliche Anforderungen: Bedienbarkeit per Touch, Anpassbarkeit von Schriftgrössen, Unterstützung von Assistenz-APIs (z. B. in iOS oder Android) und die Zugänglichkeit durch dynamische Inhalte. Ein wichtiger Punkt ist, dass Barrierefreiheit nicht als nachträglicher Fix zu verstehen ist, sondern von Anfang an in Design, Architektur und Entwicklung integriert werden muss („Accessibility by Design“). Reine Nachrüstung führt oft zu Kompromissen und Inkonsistenzen.
Risiken und Rechtsfolgen
Gerät ein Anbieter in den Anwendungsbereich der künftigen Regelung, kann die Verweigerung einfacher Massnahmen als Benachteiligung angesehen und gerichtlich geltend gemacht werden. Betroffene haben das Recht zu klagen und gegebenenfalls auf Schadenersatz oder Genugtuung zu bestehen. Zudem könnte ein Gericht anordnen, dass der Anbieter die fraglichen digitalen Zugänge anpasst. Neben dieser juristischen Komponente drohen Reputationsverluste, erhöhte Kosten für Nachbesserung unter Zeitdruck und ein Wettbewerbsnachteil gegenüber barrierefrei agierenden Wettbewerbern.
Da viele Märkte digital und grenzüberschreitend sind, ist zudem nicht auszuschliessen, dass Anforderungen aus dem EEA bereits heute Wirkung entfalten – und dass Angebote ausserhalb der Schweiz de facto denselben Standards genügen müssen, um nicht ausgeschlossen zu werden.
Empfehlungen zur Umsetzung
Wer heute in Websites oder Apps investiert, sollte Barrierefreiheit nicht als Henkelaufgabe betrachten, sondern als integralen Bestandteil. Der erste Schritt liegt in der Bestandsaufnahme: Wo bestehen Barrieren? Welche Bereiche sind kritisch (z. B. Nutzerführung, Formulare, Checkout)? Daraus lässt sich eine priorisierte Roadmap ableiten.
Parallel ist es sinnvoll, Standards wie WCAG 2.1/2.2 und eCH‑0059 als verbindliche Entwicklungsvorgaben aufzunehmen. Dabei muss Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht werden: in Konzept, Design, Architektur, Code und Testing. Automatisierte Tools können helfen, aber echte Nutzer:innen mit Behinderungen müssen in Tests einbezogen werden, um Alltagstauglichkeit zu validieren.
Interne Prozesse und Verantwortlichkeiten müssen klar geregelt werden, ebenso Schulungen für UX-Designer, Entwickler und Content-Verantwortliche. Jede Massnahme sollte dokumentiert werden, insbesondere wenn aus sachlichen Gründen Abweichungen vorgenommen werden. Auch eine Barrierefreiheitserklärung mit aktuellem Status und Ausblick kann Vertrauen schaffen.
Auch wenn die revisionsbedingte Pflicht frühestens ab 2027 in Kraft treten dürfte, empfiehlt sich ein frühzeitiger Einstieg. Anbieter, die bereits heute barrierefrei programmieren, leisten nicht nur Compliance-Vorsorge, sondern schaffen Gleichbehanldung und Barrierefreiheit schon heute, nebst technischer Qualität, optimierem SEO und gewinnen Marktpotenzial – denn bessere Zugänglichkeit nützt letztlich allen Nutzer:innen.
In der EU und insbesondere in Deutschland
Für Unternehmen mit digitalen Angeboten im EU-Raum der European gibt bereits Accessibility Act (EAA), der ab 28. Juni 2025 verbindliche Anforderungen an Barrierefreiheit stellt – auch für Anbieter ausserhalb der EU, sofern sie auf dem EU-Markt tätig sind.
In Deutschland wurde die Richtlinie umgesetzt im Barrierefreiheitstärkungsgesetz. Dazu finden Sie einen Beitrag von Dr. Martin Schirmbacher hier.
Quellen (Links [als Hyperlink in Textform], Zitation von Büchern)
- Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB – Teilrevision BehiG
- Medienmitteilung vom 23.12.2024: Bundesrat verabschiedet Botschaft zur Teilrevision des BehiG
- Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes
- Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Text von Bedeutung für den EWR)
- WCAG (Web Content Accessibility Guidelines)
- eCH-0059 Accessibility Standard