Direkt zum Inhalt wechseln

Kommentarloser Retweet ist straflos, kann aber persönlichkeitsrechtsverletzend sein

I. Sachverhalt

Mit Entscheid vom 26. Januar 2016 (GG150260-L) hatte das Bezirksgericht Zürich zu beurteilen, ob ein retweed eine strafbare Verleumdung oder den Straftatbestand der üblen Nachrede zu begründen vermag. Der Privatkläger Herrmann Lei erlangte schweizweite Bekanntheit durch seine Rolle beim Rücktritt des Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand.

Der Beschuldigte ist Redaktor der WochenZeitung (WoZ) und retweetete den am 13. Juli 2012 verfassten Tweet von „NewsMän“ (früher „MusicMän2013“) in welchem Herr Lei als „Hermann ‚Dölf‘ Lei“ bezeichnet wurde. Der Beschuldigte veröffentlichte in der WoZ vom 14. Juni 2012 einen Artikel, in welchem er der Frage nachging, in welchem Zusammenhang der Privatkläger Hermann Lei zum Domain-Namen „adolf-hitler.ch“ stehe. Im Tweet von „MusicMän2013“ wurde auf einen Artikel in der NZZ und einen Leserbrief hingewiesen, mit dem der Privatkläger Hermann Lei auf einen Artikel reagierte. Der Artikel als auch der Leserbrief drehten sich um einen Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehen über den Rücktritt von Philipp Hildebrand. Ebenfalls in diesem Tweet bezeichnete „MusicMän2013“ den Privatkläger Herrmann Lei als „Hermann ‚Dölf‘ Lei“. Der Beschuldigte erhielt den Tweet als Follower von „MusicMän2013“ in seinem Twitter-Account angezeigt. Er retweetete den Beitrag ohne einen Kommentar. Gegen den Retweet stellte der Privatkläger einen Strafantrag wegen Verleumdung (Art. 174 StGB) oder übler Nachrede (Art. 175 StGB).

II. Strafrechtliche Würdigung des Gerichts

A. Verleumdung/ Üble Nachrede

Unter Punkt 4.1 des Urteils des Bezirksgerichts Zürich hält das Gericht kurz und knapp fest, dass der Vorwurf, Sympathien für das NSRegime zu hegen, rufschädigend sei. Die zu erläuternde Frage sei jedoch, ob der Vorwurf durch den Beklagten erhoben wurde, wie es von der Staatsanwaltschaft und dem Privatkläger vorgebracht wurde.

B. Sonderregelung für Veröffentlichung in einem Medium

Der mögliche Vorwurf wurde durch den Beklagten auf der Social-Media-Plattform Twitter vorgebracht. Das Gericht setzte sich dediziert mit der Frage auseinander, ob Twitter die Funktion eines Mediums wahrnehme, nur dann das Medienprivileg nach Art. 28 StGB zur Anwendung kommt.

1. Privileg für ein Medium

Wird eine strafbare Handlung durch Veröffentlichung in einem Medium begangen und erschöpft sie sich in dieser Veröffentlichung, so ist, unter Vorbehalt der nachfolgenden Bestimmungen, der Autor allein strafbar (Art. 28 Abs. 1 StGB). Kann der Autor nicht ausfindig gemacht werden, so ist der verantwortliche Redaktor oder der für die Veröffentlichung verantwortliche Person strafbar (Art. 28 Abs. 2 StGB).

2. Kreis geschützter Personen

Art. 28 StGB soll Personen vor einer strafrechtlichen Verantwortung schützen, welche nicht einen engen Zusammenhang mit der veröffentlichten strafbaren Handlung haben: Somit sollen nur die in Art. 28 StGB aufgeführten Personen strafrechtlich belangt werden können.

Das Bundesgericht hielt im Urteil BGE 128 IV 53 E. 5.e fest, dass beteiligte Personen, welche nur bei der Verbreitung einer strafbaren Handlung in einem Medium mitwirken würden straffrei bleiben, da sie Teil der Herstellungsund Verbreitungskette eines Medienerzeugnisses sind.

So würden Plakatkleber, Kioskmitarbeiter, Briefträger usw. regelmässig die Anforderungen einer Weiterverbreitung einer ehrrührigen Behauptung oder Verdächtigung erfüllen. Art. 28 StGB schliesst jedoch die strafrechtliche Ahndung dieser Delikte aufgrund des Medienprivilegs aus.

C. Twitter als Medium

1. Weite Fassung des Medienbegriffes

Im schweizerischen Recht existiert keine Legaldefinition des Begriffes „Medium“. In der Literatur wird aber davon ausgegangen, dass ein weiter Medienbegriff angewendet werden müsse.1 Diese Ansicht wird durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung geteilt. So hat das Bundesgericht in seinem Entscheid BGE 136 IV 145 festgehalten, dass auch die Kommentarfunktion einer Webseite, bzw. auf dessen Blog ein Medium sei bzw. dazu gehöre.

2. Schutz öffentlicher Debatten

Das Gericht hat in seinem Entscheid ausgeführt, dass die enge Begrenzung des Personenkreises für eine strafbare Handlung dazu dient, den freien Meinungsaustausch zu gewährleisten, der sowohl durch die Bundesverfassung – Art. 16 ff. BV – als auch durch die EMRK – Art. 10 EMRK – geschützt wird.

Gerade in jüngster Zeit hat sich die Wirkung von Twitter und anderen Social-Media- Diensten bezüglich der potentiellen Einflussnahme auf öffentliche Debatten gezeigt: So organisierten sich Demonstranten in der Türkei wie auch in China über Twitter, und selbst in Deutschland und in der Schweiz werden Kundgebungen über Social-Media- Kanäle organisiert bzw. verbreitet.

Das Gericht führt dann auch die Volksrepublik China als eminentestes Beispiel für die politische Möglichkeit der Einflussnahme von Twitter auf öffentliche Debatten auf. China ermöglicht bis heute keinen freien Zugriff auf Twitter, dies offenbar mit dem Ziel, die Organisation von Oppositionellen zu erschweren oder gar ganz zu verhindern.

3. Fazit

Das Bezirksgericht hält in Punkt 4.3.7 fest, dass Twitter aufgrund der Auslegung von Art. 28 StGB als Medium anerkannt werden muss. Diese Ansicht scheint auch mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Einklang zu stehen.

D. Medientypische Verbreitungskette

Art. 28 StGB soll nur gelten, wenn die strafbare Handlung innerhalb der medientypischen Verbreitungskette vorgenommen wird. Was diese Kette beinhalten soll, ist in der heutigen Zeit wohl neu zu beurteilen, gerade im Hinblick auf Online-Medien.

In diesem Zusammenhang ist die Frage zu erörtern, was das jeweilige Medium als ursprüngliches Ziel seines Geschäftsmodelles vorgesehen hatte bzw. wie es sich heute entwickelt.

Twitter stellt grundsätzlich lediglich eine Plattform zur Verfügung, mit welcher es möglich ist, eine Kurznachricht zu verfassen, die dann entweder nur den Followern des Benutzers angezeigt wird oder durch die Allgemeinheit gesehen werden kann (abhängig von Einstellungen der Privatsphäre). Den anderen Nutzern von Twitter ist es sodann möglich, diese Nachricht ebenfalls weiter zu verbreiten, was durch einen sogenannten „Retweet“ erreicht wird.

Twitter – wie im Übrigen auch andere Social- Media-Plattformen – generieren ihren Umsatz sowohl durch die Einblendung von Werbeanzeigen auf ihren Seiten, als auch durch den Verkauf von gesammelten Daten. Es ist ebenfalls möglich, sich Anzeigen zu erkaufen, was dazu führt, dass die Tweets von bezahlenden Kunden in den Tweetverläufen von bestimmten Nutzergruppen angezeigt werden.2 Ähnliches bietet Facebook ebenfalls an.3

Twitter lebt gerade davon, dass die erstellten Tweets mit den Followern geteilt werden, da sich dadurch der kommerzielle Erfolg vergrössert.

Dazu passt wohl auch die Spezialisierung von gewissen Werbeunternehmungen auf Kampagnen in Social-Medias und der Vergleich der Weiterverbreitung von erfolgreichen Nachrichten mit einem Virus („It went viral“). Erst durch die Ausrichtung der Dienste auf die öffentliche Verbreitung von Beiträgen haben sich diese Phänomene herauskristallisiert und ermöglichen gewissen Akteuren die Erwirtschaftung ihres Lebensunterhaltes durch Beiträge, welche von den Followern verbreitet werden.

Das Bezirksgericht kam sodann auch zum Schluss, dass „der Retweet ein Glied der für Kurznachrichten auf Twitter typischen, üblichen und von den Betreibern gewollten Verbreitungskette ist“.

E. Grenzen des Medienprivilegs


Ehrverletzungsdelikte erschöpfen sich in der strafbaren Veröffentlichung. Deshalb, so das Bezirksgericht, kann die Privilegierung nach Art. 28 Abs. 1 StGB auf Retweets angewendet werden.

Man könnte nun davon ausgehen, dass jegliche Retweets straffrei bleiben. Das Gericht äussert sich dazu unter Punkt 4.6 und hält fest, dass das Bundesgericht Art. 28 StGB nicht auf Rassendiskriminierung, harte Pornographie oder Gewaltdarstellungen anwendet.

Unserer Meinung nach soll ein Retweet grundsätzlich straffrei bleiben und die Verbreitung von nicht von Art. 28 StGB geschützten Inhalten die Ausnahme darstellen. Auch ist nicht ersichtlich, weshalb diese Weiterverbreitung geschützt werden soll, da die öffentliche Debatte von solchen Extremdarstellungen nicht profitieren kann.

F. Freispruch des Retweeters

Der Beklagte wurde entsprechend freigesprochen, weil die Weiterverbreitung einer ehrverletzenden Äusserung innerhalb einer medientypischen Verbreitungskette nicht strafbar ist.

III. Zivilrechtliche Ansprüche

A. Ehrverletzung nicht folgenfrei


Das Gericht hat in seinem Entscheid bereits in der strafrechtlichen Würdigung in Erwägung 4.3.6 festgehalten, dass das Zivilrecht eine weiterfassende Passivlegitimation zur Verfügung stellt, um sich gegen ehrverletzende Äusserungen zu wehren.

Der Privatkläger machte sodann eine Persönlichkeitsverletzung nach Art. 28 ZGB geltend, mit der sich das Bezirksgericht Zürich ebenfalls auseinandergesetzt hat.

B. Weiter Begriff der Persönlichkeit

Der strafrechtliche Begriff der Ehre schützt nur den Ruf einer Person, ein ehrbarer Mensch zu sein: Er stellt auf die Sittlichkeit einer Person ab.4

Der zivilrechtliche Begriff der Persönlichkeit nach Art. 28 ZGB umfasst jedoch alle Merkmale und Ausprägungen einer Person. Geschützt sind alle Tätigkeiten und menschlichen Verhaltensweisen. Eine abschliessende Definition ist nicht möglich.5

Der Vorwurf, ein Anhänger des Nationalsozialismus zu sein, wird – wie oben bereits festgehalten – sowohl durch das Strafrecht als auch das Zivilrecht geschützt. Das Bezirksgericht hielt diese Feststellung in seinem Entscheid in äusserst knapper Form fest, da dies nicht umstritten war bzw. keiner Erklärung bedarf.

C. Interpretation des Durchschnittsadressaten massgebend

Der Beklagte veröffentlichte mit dem Zeitungsbericht in der WoZ vom 14. Juni 2012 seine gesammelten Erkenntnisse, die er über die Verbindung des Privatklägers zum Domainnamen „adolf-hilter.ch“ gewonnen hatte. Das Gericht hielt fest, dass der Privatkläger durch seine Verstrickung in die Affäre Hildenbrand zumindest zu einer relativen öffentlichen Person der Zeitgeschichte wurde. Durch diese Position kann ein überwiegendes öffentliches Interesse daran bestehen, dass die Öffentlichkeit über gewisse Aktivitäten dieser Person informiert wird. Zu beachten ist jedoch, dass Falschmeldungen grundsätzlich aber nicht gerechtfertigt werden können.

Das Bezirksgericht setzte sich sodann mit der Frage auseinander, welche Ergebnisse der Beklagte erlangte und wie er diese veröffentlichte.6 Es hielt fest, dass die Recherchen des Beklagten keine Anhaltspunkte dafür lieferten, den Privatkläger als Anhänger oder Verharmloser des Nationalsozialismus zu sehen. Der Beklagte wollte diesen Vorwurf auch nicht erhoben haben, sondern sah in der Bezeichnung „Dölf“ in seinem Retweet nur eine Anspielung auf die Angelegenheit mit dem Domain-Namen. Das Bezirksgericht hält fest, dass durch den zeitlichen Abstand von gut einem Monat zwischen Zeitungsartikel und Retweet bei den Followern des Beklagten bereits das Vergessen von Details des Artikels eingesetzt habe und die meisten Leser auch nicht jeden Artikel ihrer abonnierten Zeitung durchlesen würden. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass der Durchschnittsleser lediglich noch in Erinnerung hatte, dass zwischen dem Privatkläger und „adolf-hitler.ch“ eine Verbindung besteht. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass „Hermann Lei, der verkappte Neonazi“ gelesen wurde. Die Verkürzung der Diskussion auf die Länge des Retweets (max. 140 Zeichen) und die daraus entstehende Möglichkeit der falschen Interpretation der Verbindung stellt nach Ansicht des Bezirksgerichtes eine Persönlichkeitsverletzung dar.

D. Tweet als Genugtuung

Art. 28a Abs. 2 ZGB sieht vor, dass der in seiner Persönlichkeit verletzte Kläger die Veröffentlichung des Urteils oder mindestens eine Berichtigung durch den Verletzenden verlangen kann.

Die Schwere einer Persönlichkeitsverletzung kann es ferner rechtfertigen, dass dem Verletzten eine Genugtuung zugesprochen wird. Dies kann nach Art. 49 Abs. 1 und 2 OR in Form einer Geldsumme oder auf eine andere Art geschehen.

Der Privatkläger verzichtete auf die Forderung einer Geldsumme und das Gericht hielt in Erwägung 5.4.1 fest, dass eine immaterielle Genugtuung angemessener sein kann, um eine Persönlichkeitsverletzung zu ahnden.

Das Bezirksgericht verpflichtete den Beklagten zur Publikation des folgenden Tweets: „Bezirksgericht Zürich: Retweet von „Hermann ‚Dölf‘ Lei“ nicht strafbar, aber persönlichkeitsverletzend. Urteil Nr. GG150250-L.“

IV. Fazit

Das Urteil mag dahingehend überraschen, als das Retweeten von Nachrichten grundsätzlich straffrei sei. Da aber bereits durch das Bundesgericht ein Blog geschützt wurde, kann die Ansicht des Bezirksgerichtes durchaus als eine logische Schlussfolgerung angesehen werden. Wenn die öffentliche Debatte durch das Medienprivileg geschützt werden soll, so müssen auch alle dafür verwendbaren Medien von diesem Schutz profitieren können.

Das Bezirksgericht weist in der schriftlichen Urteilsbegründung darauf hin, dass auch das Medienprivileg Grenzen kennt, wenn Rassendiskriminierung, harte Pornographie oder Gewaltdarstellungen zu beurteilen sind.

Folgerichtig ist das zivilrechtliche Unterliegen des Beklagten. Das EJPD hat in seinem Bericht (Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit von Providern: Wichtigste Ergebnisse des Berichts des Bundesrates vom 11.12.2015) festgehalten, dass gegen Provider als Teilnehmer in Ehrverletzungsdelikten zivilrechtliche Ansprüche bestehen7. Dass der Benutzer des jeweiligen Mediums als Tatnächster vom Recht erfasst sein soll, kann nur begrüsst werden und ist vom Gesetzgeber auch explizit festgehalten8. Denn gerade der Beklagte hatte durch seinen Retweet das mögliche Missverständnis bei seinen Followern ausgelöst und dadurch den Privatkläger in seiner Persönlichkeit verletzt.

 

Fussnoten

  1. Franz Zeller, Ba-Komm StGB I, N 41 zu Art. 28; BGE 128 IV 53, E. 5.c.
  2. https://ads.twitter.com/.
  3. https://de-de.facebook.com/business/help/.
  4. Riklin Franz, Ba-Komm StGB II, N7 ff. zu Vor Art. 173 StGB.
  5. Meili Andreas, Ba-Komm ZGB I, N 5 ff. zu Art. 28 ZGB
  6. Erwägungen 5.2.
  7. Erwägung 3.2.2 des Berichtes.
  8. Art. 28 Abs. 1 ZGB: „… kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt…“