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COVID-19 und die mit der Pandemie verbundenen Staatsmassnahmen haben der Justiz die Grenzen des Machbaren aufgezeigt. Unser Rechts- und Prozesssystem wurde bisher als personenbezogenes System verstanden, in welchem der persönliche Kontakt mit Verfahrensbeteiligten ein unabdingbarer Bestandteil war. Ausnahmen waren nur restriktiv, wenn überhaupt, vorgesehen. Die nachfolgenden digitalen Prozesse sollen die Justiz endlich im digitalen Zeitalter ankommen lassen.

I. Status-Quo als Rechtsanwalt

COVID-19 und die mit der Pandemie verbundenen Staatsmassnahmen haben der Justiz die Grenzen des machbaren aufgezeigt. Unser Rechts- und Prozesssystem wurde bisher als personenbezogenes System verstanden, in welchem der persönliche Kontakt mit Verfahrensbeteiligten ein unabdingbarer Bestandteil war (persönliche Klientengespräche, persönliches Erscheinen vor Gericht bzw. Schlichtungsbehörde, etc.). Ausnahmen waren nur restriktiv, wenn überhaupt, vorgesehen. Nun besteht jedoch die Situation, dass persönlicher Kontakt soweit möglich vermieden werden sollte. Dies stellt sämtliche Justizbehörden, wie auch die Rechtsanwälte, vor neue Herausforderungen. Wie können Akten versendet, empfangen und bearbeitet werden, wenn der Gang ins Büro nicht mehr gestattet ist? Wie kann der Arbeitsplatz von einer stationären Einrichtung losgelöst werden? Ist die persönliche Erscheinungspflicht für Verfahren noch notwendig und wie soll sie ersetzt werden?

Sämtliche vorgenannten Fragen können mit einem Wort beantwortet werden: Digitalisierung. Was in sämtlichen Bereichen des Lebens bereits weit fortgeschritten ist, wird im Bereich der Justiz noch immer stiefmütterlich behandelt. Aus eigener Erfahrung können wir die technischen und organisatorischen Fragen, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung stehen sehr gut nachvollziehen. Selbst haben wir unsere Kanzlei soweit möglich digitalisiert. So kann jeder Rechtsanwalt ortsunabhängig auf seinen Arbeitsplatz zugreifen, Gerichtseingaben digital versenden und mit der kanzleieigenen Telefonnummer telefonieren. «Wo besteht nun also das Problem als Rechtsanwalt, eine vollständig digitalisierte Kanzlei zu führen?», könnte man sich nun Fragen. Die Antwort liegt in der noch nicht weit fortgeschrittenen Digitalisierung der Behörden. Sämtliche Eingaben einer Gegenpartei, richterliche Anordnungen und Informationen werden physisch den Rechtsanwälten zugestellt. Man ist folglich gezwungen eine physische, jederzeit anwesende, Präsenz in der Kanzlei sicherzustellen. Dies stellt sich bei krankheitsbedingen Ausfällen, Reisebeschränkungen und Quarantänepflichten als schwierige Herausforderung dar.

II. Justitia 4.0

Teilweise Abhilfe schaffen soll das Projekt «Justitia 4.0». Ziel ist eine papierlose Justizakte in allen Gerichtsverfahren (Zivil-, Straf-, und Verwaltungsverfahren), womit zwischen allen Beteiligten eine medienbruchfreie Dokumententeilung und Verfahrensführung möglich sein soll. Alle Verfahrensbeteiligten sollen einen eigenen Bearbeitungsbereich erhalten, in welchem eigene Versionen von Akten empfangen, gespeichert und bearbeitet werden können. Dies stellt für uns Rechtsanwälte einen riesigen Schritt in die Zukunft dar. Können wir bis anhin lediglich Eingaben elektronisch signiert machen, werden wir zukünftig über einen digitalen Posteingang verfügen. In der Folge kann unabhängig der physischen Erreichbarkeit in der Kanzlei mit den Behörden rechtsverbindlich bilateral kommuniziert werden.

Dies wird auch eine deutliche Arbeitserleichterung bei Richtern und Gerichtsschreibern zur Folge haben. Heute werden noch oft physische Gerichtsakten zur Bearbeitung ins eigene Büro oder an die Verhandlung genommen. Eine komplette Digitalisierung der Akten findet in den seltensten Fällen statt. In der Folge ist es nur möglich, dass eine einzige Person gleichzeitig die Akten bearbeiten kann. Dies trägt unzweifelhaft nicht zu einer Beschleunigung der Justizabläufe bei. Ebenso ist das Verlustrisiko der Papierakte hoch.

In COVID-19 Zeiten werden auch die Richter und Gerichtsschreiben nicht ständig im Büro anwesend sein und ihre Arbeiten im Homeoffice verrichtet haben. Nicht verwunderlich wäre es dabei, dass die physischen Aktenstücke ebenfalls ins Homeoffice geholt werden, damit möglichst effizient die Verfahren weitergeführt werden können. Nebst der Frage, ob im privaten Bereich dem Amtsgeheimnis genügend Rechnung getragen werden kann, stellt dies eine immense Verlangsamung der Zusammenarbeit dar, da eine Aktenzirkulation Tage in Anspruch nimmt.

Aus meiner eigenen Erfahrung habe ich elektronische Eingaben schätzen gelernt und freue mich auf die Ausweitung der möglichen digitalen Prozesse in Gerichtsverfahren. Nebst der technischen Sicherheit der angestrebten Prozesse, wird die wichtigste Aufgabe sein die Benutzung der Plattform intuitiv, unmissverständlich und schnittstellentauglich auszugestalten. Jeder Rechtsanwalt verfügt über verschiedenste Softwaresysteme, welche von einer Kanzlei vorgegeben werden. Eine Integration der Justitia 4.0 Plattform bzw. deren Schnittstelle wäre wünschenswert. Dass eine solche Integration möglich ist, beweisen Produkte aus Deutschland und Österreich (bspw. JurXpert, RA-Micro).

Der aktuelle Projektzeitplan sieht eine Einführungsphase zwischen 2022 und 2026 vor. Somit wird Justitia zwar längerfristig auf die analoge Waage verzichten können, bis dahin wird Papier wohl weiterhin der dominante Informationsträger sein. Es bleibt zu wünschen, dass COVID-19 dieses Thema beschleunigt.

III. Digitale Verfahrenshandlungen

Was das Strafrecht für Einvernahmen (Art. 144 StPO) bereits seit der Revision der StPO im Jahr 2007 vorsieht, ist für eine krisensichere Justiz auch in anderen Verfahrensbereichen notwendig. Die Rede ist von Verfahrenshandlungen ohne persönliche Erscheinungspflicht vor der entsprechenden Behörde. Eine Videokonferenz ist zeiteffizient (keine Anreise), kostengünstig (keine Reisespesen) und kann ortsunabhängig durchgeführt werden. So kann der Zeuge in Amerika mit dem Richter im Home-Office kommunizieren und die unaufschiebbare Zeugeneinvernahme durchgeführt werden. Auch ohne Reise- oder Kontaktbeschränkung könnten dadurch allen Verfahrensbeteiligten Reisewege erspart und folglich eine Verfahrensbeschleunigung erreicht werden.

Auch in diesem Bereich ist uns unser grosser Nachbar einen Schritt voraus. Mit § 128a ZPO-DE besteht die Möglichkeit eine «Verhandlung im Wege der Bild und Tonübertragung» durchzuführen. Ein Erfahrungsbericht eines direkt betroffenen Rechtsanwalts fällt durchwegs positiv aus.

Neben den rein praktischen Gründen einer Videokonferenz ist stets das formelle Recht im Auge zu behalten und die Frage, ob eine solche Lösung in den einschlägigen Gesetzesgrundlagen vorgesehen ist. In einem Rechtsstaat ist die Einhaltung des formellen Rechts eines der höchsten Güter, welche eine Gleichbehandlung sämtlicher Betroffenen sicherstellen soll. Obwohl eine ausdrückliche Rechtsnorm für digitale Verfahrenshandlungen in der Schweiz fehlt, wurde im Rahmen der COVID-19 Pandemie durch den Bundesrat die Verordnung über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht) auf den 20. April 2020 erlassen. Die Verordnung erlaubt erstmals ausdrücklich (erstmalig befristet bis 30. September 2020) die Durchführung von Verhandlungen mittels Videokonferenz (Art 2 ff. der Verordnung). Voraussetzung ist das Einverständnis der Parteien oder das Vorliegen wichtiger Gründe. Ob das Einverständnis der Parteien aus verfahrensrechtlicher Sicht ein taugliches Kriterium ist, kann offenbleiben. Aufgrund der Formulierung kann das Gericht auch von Amtes wegen eine Videokonferenz anordnen. Nur mit dieser amtlichen Anordnungsmacht kann die Justiz eigenständig dafür sorgen, dass keine unnötigen Verzögerungen herbeigeführt werden bzw. ein solches Verhalten berücksichtigen oder gar sanktionieren.

Aufgrund der kurzen Geltungszeit konnten noch keine Erfahrungsberichte gesammelt werden. Es wird spannend zu verfolgen sein, wie die Justiz auf die Möglichkeit zu Videokonferenzen reagiert und sie rege einsetzen wird. Sollte sich die Videokonferenz als wertvolles Instrument erweisen, ist unseres Erachtens kein Grund zu sehen, weshalb nicht die geltenden Verfahrensgesetze mit entsprechenden ausdrücklichen Normen ergänzt werden sollten.

Nicht zu vergessen sind auch hier die sicherheitstechnischen Anforderungen an die benutzte Konferenzlösung. Da es sich bei den Verhandlungsinformationen um sehr sensible Daten handelt, sind diese entsprechend zu schützen. Weiter sind die Anforderungen an den Datenschutz, die Datensicherheit und an das Amtsgeheimnis zu berücksichtigen. Die gewählte Konferenzlösung hat folglich zwingend hohen Sicherheitsstandards zu genügen. Im Sinne einer Prozessökonomie ist auch zu berücksichtigen, dass den Rechtsanwälten auch nicht zugemutet werden kann 26 verschiedene Videokonferenzlösungen zu installieren und zu verstehen. Ähnlich wie mit dem Projekt Justitia 4.0 wäre es von Interesse, dass eine einzige Lösung evaluiert oder entwickelt wird, welche den schweizerischen Gesetzen entspricht. Eine Integration in die Justitia-Plattform liegt dabei auf der Hand.

Ein weiterer Vorteil einer eigens entwickelten Videokonferenz wäre auch die Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse des Justizsystems. So besteht im Zivilverfahren bis zum Aktenschluss die Möglichkeit neue Beweismittel einzureichen. Der Aktenschluss kann dabei auch mit der Hauptverhandlung zusammenfallen. Folglich muss eine Videokonferenzlösung auch die Möglichkeit bieten rechtskonform neue Eingaben machen zu können. So müssen aktuell sämtliche Eingaben mit einer elektronischen Signatur gezeichnet und nachweisbar über eine verschlüsselte Plattform (IncaMail oder PrivaSphere) eingereicht werden. Ein solcher Zustellnachweis kann durch eine gewöhnliche Videokonferenzlösung nicht sichergestellt werden. Ob eine Bestätigung mittels Chatnachricht oder ähnlichem eine äquivalente Lösung darstellt, ist zu bezweifeln. Weiter muss sämtlichen Bürgern der Zugang zum Recht ermöglicht werden (Art. 29 ff. BV). Folglich muss auch eine Videokonferenzlösung jedermann zugänglich gemacht werden und darf nicht an finanziellen oder anderen Interessen scheitern. Dies kann nur sichergestellt werden, wenn eine eigenständige zentrale Stelle über die Verwendung entscheiden kann.

IV. Betreibungswesen

Oft wird in der Schweiz Rechtsschutz in Form einer Betreibung gesucht. Diese schnelle und kosteneffiziente Form der Vollstreckung ermöglicht es eine mittels Rechtsöffnungstitel abgesicherte Forderung durch das Betreibungsamt vollstrecken zu lassen. Das Betreibungsbegehren kann nach Art. 67 SchKG sowohl schriftlich als auch mündlich an das Betreibungsamt gerichtet werden. Nur beschränkt möglich ist eine elektronische Eingabe.

Eine elektronische Eingabe bei einem Betreibungsamt ist nur über die Plattform easygov des Bundes möglich. Die Plattform ermöglicht es Schweizer Gläubigern ein Betreibungsbegehren online auszufüllen und einzureichen. Eine erste Schwierigkeit zeigt sich jedoch bereits bei der Unmöglichkeit als Gesuchsteller eine ausländische Person anzugeben. Dies erstaunt, wird doch vorgängig erfragt, ob eine Stellvertretung vorliegt. So ist nach Art. 67 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG ein Zustelldomizil vom Gläubiger zu bezeichnen, wenn der Wohnsitz im Ausland liegt. Massgebend dürfte folglich lediglich das Domizil des Vertreters sein. Nun kann zwar argumentiert werden, dass ein Betreibungsbegehren auch mündlich zu Protokoll gegeben werden kann, doch wird als Rechtsanwalt oft die Schriftlichkeit aus Beweisgründen bevorzugt.

Es ist schleierhaft weshalb nicht analog der elektronischen Einreichung bei den Gerichten auch entsprechende Postfächer für die Betreibungsämter zur Verfügung gestellt werden. Die Bereitstellung einer eigenen Plattform, welche leider noch nicht ausgereift ist, erscheint unzweckmässig. Das Betreibungswesen wird dabei auf der Plattform mit Funktionen zu Handelsregistern, Sozialversicherungen und anderen Bereichen verknüpft. Hauptfunktion des Betreibungswesens ist jedoch die Vollstreckung von Geldforderungen und folglich stellt es ein Instrument des Justizvollzuges dar (vgl. Art. 38 SchKG). So müsste auch die elektronische Plattform mit der Justizplattform verknüpft werden. Mindestens jedoch die Betreibungsämter denselben Zustellungswegen zugänglich sein wie die Gerichte.

V. Die Zukunft wird digital

Die vorgenannten digitalen Prozesse sollen die Justiz endlich im digitalen Zeitalter ankommen lassen. Obwohl sie noch lange nicht den bereits in Kanzleien oder gar Unternehmen vorhandenen digitalen Prozessen gerecht werden, werden sie spürbare Verbesserungen und Beschleunigungen im Verfahrensablauf mit sich bringen. Haben elektronische Gerichtseingaben für uns Rechtsanwälte bereits Erleichterungen gebracht, so wird eine allgemeine Justizplattform noch viele weitere Annehmlichkeiten bringen.

Den grössten Nutzen werden dabei aber die Rechtssuchenden haben, die durch einfachere, effizientere und dadurch hoffentlich kostengünstigere Verfahren zu ihren Rechten kommen. Durch die Senkung von Kosten werden auch Streitigkeiten den Gerichten zugänglich, welche allenfalls heute aus Kostengründen nicht einer richterlichen Entscheidung unterbreitet werden.

Sämtliche Akteure im Bereich der Justiz werden dafür verantwortlich sein die Einführung zu beschleunigen. Rechtsanwälte, Richter, Behördenmitglieder müssen dafür besorgt sein, dass die technische Innovation begrüsst, verstanden und korrekt umgesetzt wird. Nur so kann die Digitalisierung in der Justiz verbreitet Einzug halten und in einer weiteren Krise merkliche Ausfälle verhindern.